Aus dem Leben des „kleinen Zugspringers“

Berlin, 5.30 Uhr. Karl-Heinz Richter bricht nach Wolfenbüttel auf. Was bringt einen 74-jährigen dazu, in aller Frühe das Haus zu verlassen, damit er in mehr als 200km Entfernung Jugendlichen aus seinem Leben berichten kann? Geboren 1946 in Schwarzheide im Oberspreewald, ist Richter in Ostberlin aufgewachsen.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Deutschland von den Siegermächten in vier Teile dividiert und Berlin gesondert in vier Sektoren aufgeteilt. Es begann eine 40 Jahre andauernde Diktatur „ohne ansatzweise Demokratie“. In seiner Kindheit war es problemlos möglich, sich frei in der gesamten Stadt zu bewegen. Deshalb kannte er Westberlin gut, es sei „anderes Leben“ gewesen, in der DDR alles grau und dunkel. Das Ziel war also schon früh klar: Westberlin.
Der Wunsch verstärkte sich noch dadurch, dass Jugendlichen der Lebensweg in der DDR vorgezeichnet war, ohne die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen oder womöglich Kritik zu äußern.
Bis zum Zeitpunkt des Mauerbaus am 13.08.1961 flüchteten pro Tag (!) 2.000 bis 3.000 Menschen über die Grenze in den Westen. Richter war damals 15 Jahre alt. Zuhause diskutierte er leidenschaftlich mit den Eltern. Nicht nachvollziehen konnte er, dass seine – übrigens noch heute lebende Mutter – nicht noch einmal neu in Westdeutschland beginnen wollte.
In die FDJ ist Karl-Heinz Richter nicht eingetreten, weil er sich nicht anpassen wollte, die Lieder nicht singen mochte und selbstbestimmt leben wollte. Aus diesem Grund konnte er trotz hervorragender Leistungen als Leistungssport-Ringer weder an internationalen Wettkämpfen teilnehmen noch Abitur machen. In seiner Freizeit spielte er in der Jungen Gemeinde Trompete.
Aus Idealismus und dem Wunsch nach Freiheit verhalf er 1963/64 innerhalb von sechs Wochen 17 Freunden zur Flucht in den Westen. Zuvor hatte Richter bereits drei Freunde verloren, die spontan und ohne Plan fliehen wollten. Besonders traumatisch war für ihn der Tod Peter Fechters – live im Fernsehen zur Abschreckung übertragen. Die beiden waren befreundet.
Als Richter schließlich selber fliehen wollte, verfehlte er den rettenden Zug knapp, rannte 200m im Todesstreifen um sein Leben, und hatte schließlich die Wahl, eine sieben Meter hohe Mauer herunterzuspringen oder zu sterben. Weil er sich für Ersteres entschied, brach er sich beide Beine, den rechten Arm sowie verschieden Rippen. Trotzdem schleppte er sich nach Hause zu seinen Eltern, wo er eine Woche später von der Stasi verhaftet wurde. Richters Fluchthilfe hatte die Stasi das einzige Mal in der gesamten Geschichte der DDR in „erhöhte Alarmbereitschaft“ versetzt. Auf „organisierte Massenflucht“ standen in der DDR die Todesstrafe oder ein lebenslanger Gefängnisaufenthalt.
Doch wie gelang Richters Freunden die Flucht? Durch eine Luke kundschaftete er aus, wie sich die Soldaten am Grenzbahnhof Friedrichsstraße bewegten. So konnten die Jugendlichen von einem Brückenpfeiler in sechs Meter Höhe auf den Moskau-Paris-Express aufspringen und in die Freiheit gelangen.
Der erste geflohene Freund, Wolfgang, erwartete jeden Morgen weitere Geflüchtete am Bahnhof und gab die Meldung an das Westberliner RIAS-Radio weiter. Dies ärgerte die Stasi sehr, u.a. weil die Fluchtstelle weiter unbekannt blieb. Die Stasi glaubte, ein ausländischer Geheimdienst stecke dahinter.
Als einziger Gefangener erhielt Richter keine medizinische Versorgung. Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, hatte „Eigenbedarf“ angemeldet. Die Todesstrafe war für Richter bereits vorgesehen, doch seine „Kumpels“, wie Richter seine Jugendfreunde immer nennt, hielten vor dem Reichstag eine Pressekonferenz ab, sodass internationale TV-Sender in seinem Fall Öffentlichkeit herstellten. Dennoch verbrachte er seine Haftzeit in Isolationshaft. Die Bedingungen im Gefängnis waren menschenunwürdig: Richter bekam trotz dreimaliger Nachfrage keine Medikamente oder Schmerzmittel, es wurde geprügelt und gefoltert. Erst sieben Wochen nach seiner Verhaftung bekam Richter Zugang zu einer Waschmöglichkeit. Seine durch das viele Kratzen verursachten blutigen Stellen konnte er nur mit Eigenurin behandeln. Zum Frühstück und Abendessen gab es feuchtes Brot, mittags Graupensuppe. Diese hatte allerdings ein erhöhtes Bedürfnis, seine Körperabgase abzugeben, zur Folge. Wachleute weigerten sich, ihn zu transportieren, worauf er heute noch stolz ist.
Nach sechs Monaten für die DDR rufschädigender Berichterstattung über „den kleinen Zugspringer“ wurde er endlich in verschiedenen Krankenhäusern Berlins 18 Monate lang medizinisch versorgt.
Ein Geständnis hat er nicht abgelegt, nachdem ihm gesagt wurde, dass er nicht mehr herauskomme, die Kugel schon im Lauf sei. Zwei Freunde befanden sich zu dem Zeitpunkt noch auf der Flucht, die ihnen glückte.
Seine Zeit im Gefängnis überstand er nur durch seinen unbedingten Siegeswillen als Leistungssportler.
Mit einem Schild hat seine Mutter gegen seine Verhaftung durch das MfS protestiert, weshalb sie schließlich ebenfalls festgenommen wurde. Sein Vater starb kurz vor seinem 48. Geburtstag an „gebrochenem Herzen“, daran, wie mit seinem Sohn umgegangen wurde. Nach dessen Tod stellte Richter sich deshalb aufs Dach und schrie: „Ihr Kommunistenschweine!“. Dafür musste er erneut ins Gefängnis und konnte nicht an der Beerdigung seines Vaters teilnehmen. 500 Menschen kamen stellvertretend für ihn. Seinen Eltern hat er nichts von seinen Fluchthilfeaktionen erzählt, sie vermuteten es aber.
Auch seine Familie wurde nicht verschont: Seine Frau wurde für sechs Monate inhaftiert, seine Tochter den Eltern weggenommen. In der DDR gab es über 7.000 Zwangsadoptionen. Während seine Frau im Gefängnis war, wurde sie mehrfach vergewaltigt, was letztlich zu einer psychischen, unheilbaren, sich stetig verschlimmernden Störung geführt hat. Seine Tochter wurde aus der Wohnung abgeholt, während er festgehalten wurde. Sie wuchs in einem Heim auf, wurde später von der Bundesrepublik freigekauft und hat eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt. Heute hat sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater.
1975 wurden Richter und seine Frau aus der DDR zwangsausgesiedelt, wegen seiner „grundgefestigten negativen Einstellung gegenüber unserem System“, wie es der Staat formulierte. Aus tiefer Dankbarkeit gegenüber den Ärzten, die ihn gesundpflegten, verhalf er 21 weiteren Leuten mit gefälschten Pässen zur Flucht.
Um dem langem Arm der Stasi zu entgehen, lebten seine Frau und er u.a. in Saudi-Arabien, Westafrika, Nigeria, Kamerun und den USA. Erst 2004 kehrten sie nach Berlin zurück. All diese Verwicklungen sind nur dadurch entstanden, dass sie nicht mehr im sozialistischen System der DDR leben wollten. Immer wieder betonte er, dass sich die Schülerinnen und Schüler bewusst machen müssten, wie gut sie es hätten. Die Gewalt des DDR-Regimes hat er nie verwinden können: Als er mit seiner Frau an der Supermarktkasse stand, erkannte er einen Stasi-Mitarbeiter. Dieses „Zusammentreffen“ hat ihn 8.600 DM gekostet.
Seine Vorträge sind eine Form der Aufarbeitung, neben den von ihm geschriebenen Büchern. Zu seinen Jugendfreunden hält Richter bis heute Kontakt.
Besonders gut gefallen hat den Schülerinnen und Schülern die lebendige Vortragsweise. Alle waren und sind nachhaltig von dieser Lebensgeschichte, die übrigens durch eine 4.000 Seiten dicke Stasi-Akte belegt ist, beeindruckt. Die Schülerinnen und Schüler haben sich sehr über diese Veranschaulichung des Geschichtsunterrichts gefreut. Die Große Schule bedankt sich bei Herrn Rohac, der auch in diesem Jahr für die Durchführung verantwortlich war, und natürlich bei Herrn Richter für sein Kommen.
Zudem geht ein großer Dank an die Braunschweiger Sparkassenstiftung, welche aus den Mitteln der Reinerträge der Lotterie Sparen und Gewinnen diese spannenden Vorträge ermöglicht hat.

Elisabeth Selle